Doha –
Die Meinung und die Meinung der anderen – mit diesem Motto wurde Al-Dschasira zu einer unabhängigen Stimme in der arabischen Welt. Inzwischen vertritt der Fernsehsender auffallend oft die Sicht seines Besitzers, des Emirs von Katar. Ein Besuch im Newsroom.
Die Moderatorin trägt langes offenes Haar und ein türkisfarbenes Kostüm, ihre Augen sind von schwarzem Kajal-Stift umrahmt, ihre Wimpern dick getuscht. „Willkommen zu den Nachrichten“, sagt sie lächelnd, dann wird der erste Fernsehbeitrag eingeblendet: Junge Männer kauern hinter einer Hausecke. Einer schießt, der Rückschlag der Panzerfaust reißt ihn zu Boden. Er ist nicht älter als 15. „Allahu Akbar!“, brüllen die anderen, es ist ihr Schlachtruf. Schnitt, dann sieht man Männer mit Maschinenpistolen, sie stehen um einen Pick-Up herum, dessen Ladefläche mit einer Plane abgedeckt ist. Ein Mann schlägt die Plane zurück, tote Kinder liegen da, die Leichen sind blutüberströmt. „Das waren die!“, ruft einer der Männer.
Die Bilder sind schwer zu ertragen. Sie kommen aus Syrien. „Ich arbeite seit langem beim arabischen Fernsehen und habe viel gesehen, aber das, was aus Syrien zu uns kommt, ist schlimmer als alles“, sagt Eiman Al Scherbini. Dann muss er weiterarbeiten, er ist der Schlussredakteur der Abendnachrichten des Senders Al-Dschasira, die gerade begonnen haben. „Ghada, hör zu“, spricht er in ein Mikrofon, die Moderatorin kann ihn über einen kleinen Kopfhörer in ihrem Ohr hören, „nach diesem Beitrag haben wir ein Gespräch mit einer Aktivistin. Es soll Proteste an der syrisch-türkischen Grenze geben. Frag danach!“ Die Moderatorin nickt, dann holt sie einen Spiegel hervor, richtet ihre Haare.
Wenige Sekunden später begrüßt sie die Aktivistin Sarah am Telefon. Sarah ist kaum zu verstehen, sie spricht schnell und flüstert fast. Zudem knackt es in der Leitung. Eiman Al Scherbini spielt mit seiner Lesebrille. Soll er das Gespräch wegen der schlechten Tonqualität kurz halten? Nein, beschließt er. Was die Aktivistin erzählt, ist wichtig. Sie spricht von der Wut und Empörung der Demonstranten darüber, dass die Welt tatenlos zuschaut, während Baschar al-Assad auf sein Volk schießt.
„Al-Dschasira spielt eine Rolle in den Revolutionen der Arabischen Welt. Wir lassen nicht locker“, sagt Eiman Al Scherbini. „Wieder und wieder berichten wir zum Beispiel über die Verbrechen, die in Syrien passieren, machen die Menschen darauf aufmerksam.“
Engagierter und dabei unabhängiger Journalismus. So sieht der in Katars Hauptstadt Doha ansässige Sender, der der Regierung, also dem Emir, gehört, sich selbst – und so ist er nach den Anschlägen vom 11. September 2001 über die arabische Welt hinaus bekannt geworden. „Die Meinung und die Meinung der anderen“ ist seit damals der Leitspruch der Fernsehstation, bei der außer den US-Militärs und arabischen Politikern auch radikale Islamisten zu Wort kamen. Plötzlich gab es eine Alternative zum arabischen Staatsfernsehen, das nur die Sicht der Diktaturen verbreitete. Aber auch eine Alternative zu CNN und BBC, die in den Zeiten des Krieges gegen den Terror ihre westliche Sicht der Dinge verbreiteten.
Die Fans wenden sich ab
Elf Jahre später muss man sagen: Von dem Anspruch der Unabhängigkeit ist nicht allzuviel geblieben – wie sich gerade an der Berichterstattung aus Syrien zeigen lässt. In den ersten Wochen des Aufstandes berichtete Al-Dschasira kaum über die Demonstrationen in Damaskus und Deraa. Dann gab es Beiträge, deren Tenor war, dass die syrische Revolution anders sei, friedlich, und nicht auf den Sturz des Regimes abziele. Einer der Korrespondenten in Beirut kündigte. Er hatte an der syrisch-libanesischen Grenze bewaffnete syrische Oppositionelle gefilmt, doch seine Bilder wurden nicht gesendet. Ab Sommer 2011 gab es dann plötzlich Beiträge über die syrischen Rebellen – zeitgleich mit einem Kurswechsel in der katarischen Außenpolitik. Bis dahin pflegten der Emir von Katar und Baschar al-Assad eine enge Freundschaft, nun wandte sich die Regierung in Doha von Syrien und seinem Staatspräsidenten ab und stellte sich ganz auf die Seite des Aufstands. „Plötzlich entdeckte Al-Dschasira die bewaffneten sunnitischen Kämpfer als Helden“, so Schadi F., ein syrischer Aktivist. Er sei lange ein Fan gewesen, nun boykottiere er den Sender. Zuerst wurde gar nicht über die Aufstände berichtet, nun auf eine Art, die er nicht für verfälscht hält: „Sie berichten jetzt über unsere Revolution, als sei dies ein religiöser Aufstand. Der Islam und der Kampf werden in den Vordergrund gestellt“. Zudem werde der Hass zwischen den Volksgruppen geschürt: „Sie zeigen immer Bilder von Gräueltaten und sagen dann, dass die anderen daran Schuld seien. Da weiß jeder sofort, dass die Alawiten gemeint sind“, sagt er – also die Minderheit in Syrien, die das Land kontrolliert. Mehrfach hat sich der Emir von Katar für eine militärische Intervention in Syrien ausgesprochen und die Berichterstattung auf Al-Dschasira verstärkt den Eindruck, dass es keine Alternative dazu gibt. Aktivisten wie Schadi F. werfen dem Emirat vor, aus Syrien einen sunnitischen Staat machen zu wollen und deshalb vor allem diese Gruppe zu unterstützen.
Der sunnitische Islam ist auch in Katar Staatsreligion, und der Emir versucht seit einiger Zeit, seinen Einfluss in der Region zu vergrößern. Ein eigener Fernsehsender ist da ein willkommenes Werkzeug. Die Zeiten, in denen sich der Emir den Luxus eines redaktionell unabhängigen Senders leistete, scheinen vorbei zu sein.
Sympathie der US-Regierung
Ibrahim Helal sitzt in einem kleinen Büro neben dem Newsroom von Al-Dschasira. Der 45-jährige Ägypter ist der Chefredakteur des Senders, durch eine Glasscheibe schaut er auf die Hektik im Redaktionsraum. Knapp fünfzig Redakteure arbeiten heute an den runden Tischen, bereiten Beiträge vor, recherchieren. Die Scheibe dämpft die Stimmen, nur ein geschäftiges Brummen dringt durch. In Helals Büro flimmern mehrere Monitore. Hier verfolgt er das eigene Programm und das der Konkurrenz.
Helal kennt die Vorwürfe der neuen Parteilichkeit seines Senders. „Das ist völlig absurd“, sagt er. „Wir berichten über Syrien, wie wir über jeden anderen Konflikt berichten“. Und Bahrain? 2011, zu Beginn des Arabischen Frühlings berichtete der Sender voller Sympathie über die Demonstrationen etwa in Kairo. Die Proteste wurden durch aufmerksame Berichterstattung regelrecht gepäppelt und die Menschen ermutigt. Als dann jedoch auch die Jugend im benachbarten Bahrain zu demonstrieren begann, gab es darüber keine Berichte. Erst als Aktivisten Al-Dschasira massiv kritisierten, änderte sich das ein wenig. Bahrain liegt nicht nur in direkter Nachbarschaft zu Katar, es ist auch der Heimathafen der 5. US-Flotte. Hat man also nicht berichtet, weil die Regierung fürchtete, die Revolution könnte aufs eigene Land übergreifen? „Das ist großer Quatsch“, sagt Ibrahim Helal. Es sei einfach so, dass es sich in Bahrain nicht um „Arabellion“ handele. „Dies ist der Versuch einer Sekte, die legitime Regierung wegzuputschen. Es ist ein schiitischer Aufstand im Auftrag des Iran“, sagt er und gibt damit die offizielle Regierungslinie des bahrainischen Königshauses wieder. Eine internationale Untersuchungskommission kam im vergangenen Jahr allerdings zu einem anderen Schluss. Sie konnte keine Einmischung des Irans feststellen, zumindest nicht in den ersten Monaten des Aufstandes.
Auffällig ist auch die neue Sympathie der US-Regierung für Al-Dschasira. Präsident George W. Bush wollte den Sender noch bombardieren lassen, damals, nach den Anschlägen vom 11. September, als Al Dschasira immer wieder Botschaften von Al-Kaida-Chef Osama Bin Laden zugespielt bekam. Jahrelang wurde Al-Dschasira von den USA und anderen westlichen Regierungen vorgeworfen, Propaganda zu betreiben und die arabischen Zuschauer aufzuhetzen. Ganz anders klang da vor kurzem US-Außenministerin Hillary Clinton: Wer wissen wolle, was wirklich in der arabischen Welt passiere, solle Al-Dschasira einschalten, sagte sie.
Das Lob ist verständlich, wenn man sich die Berichterstattung genau ansieht: Al-Dschasira und das Außenministerium der USA ziehen neuerdings am gleichen Strang. Beide stehen auf der Seite der „Arabellion“. Zumindest, so lange nicht ganz direkt die Interessen des eigenen Landes bedroht sind oder es womöglich Schiiten sind, die nach Freiheit streben. Am Beispiel von Bahrain und Syrien zeigt sich deutlich, dass es nicht nur um Freiheit und Menschenrechte geht. Es gibt ein anderes Ziel: Die arabische Welt soll religiöser werden, sunnitischer und der Einfluss des Iran so zurückgedrängt werden. Jetzt wird der Sender gelobt, obwohl man ihm mehr denn je vorwerfen kann, Partei zu ergreifen.
Chefredakteur Helal hat eine eigene Erklärung für die netten Worte aus Washington. Durch die Anschläge des 11. September 2001 seien die Amerikaner erschüttert worden und man müsse ihnen ihre Aussetzer im Bezug auf Al-Dschasira nachsehen. Mit Barack Obama sei mehr Vernunft ins Weiße Haus eingezogen. Das erkläre, warum Al-Dschasira nicht mehr kritisiert werde.
„Ich musste kündigen“
Viele Mitarbeiter von Al-Dschasira sehen das nicht so. Mehr als ein Dutzend Korrespondenten haben bereits gekündigt. Das Büro in Berlin – bisher gab es hier zwei Journalisten – ist derzeit unbesetzt. Aktham Suleiman hat elf Jahre lang dort gearbeitet, bis zum 1. Oktober dieses Jahres. „Die Unabhängigkeit ist immer mehr verloren gegangen. Gesendet wird jetzt, was die Regierung von Katar vorgibt und was in deren Außenpolitik passt. Ich musste kündigen, da ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen konnte,“ sagt Suleiman. Er erinnert sich, wie er sich 2001 mit Ibrahim Helal und dem damaligen Intendanten des Senders in Berlin traf. Die beiden waren extra angereist, um sich persönlich die Bewerber für die Korrespondentenstellen im neuen Berliner Büro anzusehen. Suleiman erzählt, wie glücklich er war, als er die Zusage bekam: „Al-Dschasira war ein Traum für mich: unabhängiger arabischer Journalismus.“ Es tut ihm weh, diesen Traum zu begraben.
In seinem Büro in Katar hat Ibrahim Helal auch für die Kündigung Aktham Suleimans eine Erklärung: „Die arabischen Revolutionen sind ein Punkt, an dem es für viele an die eigene Identität geht. Aktham Suleiman ist Alawit, da kann ich verstehen, dass er nicht mehr für uns arbeiten will“, sagt er. Tatsächlich ist die Mannschaft von Al-Dschasira homogener geworden: Viele Christen sind gegangen, Anhänger der Muslimbruderschaft, so heißt es, geben jetzt im Sender den Ton an. Auch in diesem Punkt ist man sich zwischen Washington und Doha einig: Die moderateren Muslimbrüder sind zu unterstützen, so sollen die radikaleren islamischen Gruppierungen eingedämmt werden.
Ibrahim Helal schaut zum Bildschirm über seinem Schreibtisch und verzieht das Gesicht. Scheich Yassir Bourhamy war Gast in der Nachmittagssendung, die nun wiederholt wird, ein bekannter ägyptischer Salafistenprediger. Hennagefärbter Bart und wadenlanges Gewand. Er ist bekannt für seine radikalen Ansichten, ganz besonders setzt er sich dafür ein, das Heiratsalter für Mädchen in Ägypten zu senken. Bereits mit vierzehn oder gar mit neun Jahren sollen sie verheiratet werden dürfen. Wegen einer Konferenz war der Scheich in Doha, Al-Dschasira wollte sich die Chance nicht entgehen lassen und holte ihn ins Studio. Die Sendung, zu der er eingeladen war, wird von einem Mann und einer Frau präsentiert. Der Scheich habe partout nicht mit einer Frau im Bild sein wollen, erzählt Helal, noch dazu mit einer ohne Kopftuch. Er habe gedroht, das Studio zu verlassen, wenn die Moderatorin ihm auch nur eine Frage stelle. Die eigenwillige Kameraeinstellung, die nun auf dem Bildschirm zu sehen ist, ist ein Zugeständnis an den Gesprächsgast: Das Bild ist so beschnitten, dass die Interviewerin nicht zu sehen ist. „Diese Typen machen uns das Leben schwer“, sagt Ibrahim Helal. „Ich glaube aber, dass die Menschen sich von ihnen abwenden, wenn sie sie erst richtig kennenlernen“. Die Meinung und die Meinung der anderen. In manchen Momenten erkennt man noch den Anspruch, mit dem der Sender einst angetreten ist.