(Motorsport-Total.com) – Liebe Leser,
was war das für ein Ungarn-Grand-Prix! Bahrain war schon extrem aufregend, Kanada ebenfalls, sogar in Deutschland wurde man blendend unterhalten – aber was Daniel Ricciardo Co. gestern geboten haben, war allerfeinstes Racing; für mich das bisherige Rennen des Jahres. Insofern tut es mir fast leid, dass ich heute über die Formel 1 nörgeln muss, und mir ist hundertprozentig bewusst, dass ich mir damit unter den Teamchefs keine neuen Freunde machen. Aber meine Freunde sollen ja auch nicht die Teamchefs sein, sondern die Leser.
Es ist die grundsätzliche Aufgabe des Journalisten, über die Wahrheit zu schreiben. Die Wahrheit ist manchmal, dass ein Rennen spannend war, manchmal dass ein Fahrer sich einen Wechsel zu einem anderen Team überlegt, manchmal ein toller Erfolg eines Teams oder ein Abschluss einer Marketingabteilung mit einem neuen Sponsor. Manchmal ist die Wahrheit aber auch, dass einiges schief läuft in der Formel 1. Genau darum geht es oft bei den Freitags-Pressekonferenzen der FIA.
Freitags-PKs: Meistens geht’s um Politik
Es war am vergangenen Freitag das übliche Spielchen: Sechs Teamchefs (beziehungsweise Teamchefinnen) saßen dutzenden Journalisten gegenüber, und nach der offiziellen Fragerunde hatten meine Kollegen vor Ort die Chance, Christian Horner, Marco Mattiacci Co. selbst zu löchern. Wie so oft in einer Freitags-PK ging es vor allem um sportpolitische Themen – kein Wunder, wenn sich sechs der wichtigsten Entscheider den Fragen stellen.
Nach dem völlig handzahmen offiziellen Teil ging’s um spannende Themen wie: Kann es sich ein Weltsport wie die Formel 1 nach dem Abschuss von MH17 leisten, einen Grand Prix von Russland zu fahren? Macht es Sinn, eine Traditionsstrecke wie Monza abzusägen und stattdessen nach Aserbaidschan zu gehen? Warum sind die Tribünen in Hockenheim leer geblieben? Ist es nicht besorgniserregend, dass CVC Capital Partners sein Engagement in der Formel 1 beenden und Milliardengewinne mitnehmen will?
Dann die Frage des Sport-Bild-Journalisten Ralf Bach, im genauen Wortlaut so: “Wir haben also erfahren, dass wir nach Aserbaidschan gehen. Wir sind in Bahrain gefahren. Jeder weiß, dass Bahrain seine eigenen Leute tötet. Wir gehen nach Russland und es gibt keinen Kommentar. Wir sind in China gefahren – nicht gerade berühmt für seine Demokratie, wie ich gehört habe.”
Gibt die Formel 1 ein gutes Vorbild ab?
“Also ist meine Frage: Sie alle sagen, dass die Formel 1 und ihre Fahrer für junge Menschen ein gutes Vorbild abgeben sollen. Halten Sie es für ein gutes Vorbild, Herrn Ecclestone überall dorthin nachzugehen, wo er will? Und meine nächste Frage: Wenn er nach Nordkorea gehen würde, würden Sie ihm auch folgen?”
Zunächst antwortete Vijay Mallya darauf, doch mit dessen schwammigem Statement gab sich Christoph Becker von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht zufrieden: “Stellen wir die Frage anders. Wenn Sie davon sprechen, das Produkt bestmöglich zu promoten, glauben Sie dann, dass es für das Produkt gut ist, nach Baku zu gehen? Angesichts der dortigen Menschenrechtslage und der Tatsache, dass sie auf Platz 160 der Rangliste von Reporter ohne Grenzen liegen?”
Genug, um bei Horner den Geduldsfaden reißen zu lassen: “Das wird gerade zu einer sehr deprimierenden Pressekonferenz, weil wir uns nur auf das Negative konzentrieren.” Er möchte über die tollen Duelle in Hockenheim reden, über die Fahrer als Stars des Sports, aber nicht über Themen, die ihn in Verlegenheit bringen könnten. Und er empfiehlt den Journalisten: “Wenn ihr schon solche Fragen habt, dann stellt sie bitte Herrn Todt oder Herrn Ecclestone, aber nicht den Teams.”
Teams wollen Geld, aber keine Verantwortung
Eine nicht nachvollziehbare Argumentation, bei allem Respekt. Die Teams sind in allen wichtigen Entscheidungsgremien vertreten, streifen mehr als die Hälfte vom milliardenschweren Einnahmenkuchen der Formel 1 ein. Warum sollten sie also nicht genauso zu politischen Themen Stellung nehmen müssen wie Bernie Ecclestone und Jean Todt? Seit wann suchen sich die Entscheider eines Sports selbst aus, was man sie fragen darf und was nicht?
Horners lautstarker Ausraster erntete auf Twitter prompt scharfe Kritik von zahlreichen Medienvertretern. “Christian Horner verliert in der FIA-Pressekonferenz spektakulär die Nerven, nach wiederholten Fragen über die Finanzierung und das Rennen in Russland”, schrieb etwa Kevin Eason von der angesehenen Londoner Times. Aber diese Reaktionen waren für die Teamchefs nicht etwa Anlass, Einsicht zu zeigen, auch kritische Fragen zu tolerieren und aufrichtig zu beantworten, sondern es kam noch schlimmer.
Bei einem Teamchef-Meeting tags darauf wurde die Pressekonferenz besprochen. Ausgerechnet McLaren-Rennleiter Eric Boullier, unter Journalisten für seine Offenheit und Geradlinigkeit geschätzt, soll vorgeschlagen haben, Bach die Akkreditierung zu entziehen. McLaren dementierte dies später, räumte aber ein, dass Boullier über die Art und Weise der Fragestellung sehr wohl verärgert gewesen sei. Aber dass es ein Krisenmeeting gab, mit einer Diskussion darüber, wie man kritische Fragen in Zukunft am besten in den Griff bekommen könnte, spricht Bände über die Interpretation von Pressefreiheit im Formel-1-Paddock.
Die unbequeme Wahrheit
Nun ist Ralf Bach ein Journalist, der nicht zum ersten Mal wo angeeckt hat. Das muss man wissen, um den Groll der Teamchefs nachvollziehen zu können. Aber deswegen gleich so ausrasten? Ein Mann von Horners Kaliber sollte eigentlich über den Dingen stehen und selbst die kritischsten Fragen sachlich beantworten können. Das konnte er in dem Fall nicht, weil die ehrliche Antwort wohl gelautet hätte: “Wir fahren auch lieber in Monza als in Baku, aber dort können wir weniger Geld verdienen.”
Damit macht man sich weder bei den Fans noch bei Ecclestone, der mit dem Mandat der Teams nach neuen Millionen schürft, beliebt, und auch bei den spendablen Milliardären in Aserbaidschan nicht. Also antwortet man in den Pressekonferenzen lieber ausweichend, vage, unvollständig. Unbefriedigend für meine Kollegen und mich. Und gerade weil diese Entwicklung immer mehr in die falsche Richtung geht, arten die Freitags-Pressekonferenzen mit den Teamchefs immer öfter zu einem Kreuzverhör aus.
Die Journalisten vertreten die Staatsanwaltschaft (die Fans, für die gutes Racing wichtiger ist als Geld), die Teamchefs werden angeklagt. Leider liefert die Formel 1 eben auch genug Stoff, um Vorwürfe gegen sie zu erheben, und es ist nur legitim, in einem Forum wie der FIA-Pressekonferenz Fragen darüber zu stellen. Negative Fragen sind noch keine negativen Schlagzeilen – die gibt es erst, wenn die befriedigenden Antworten ausbleiben. Und die können die Teamchefs derzeit nur selten liefern, wenn es um die ewige Diskussion Tradition vs. Gier geht.
Maulkörbe waren nicht die Idee der Medien
Horners Vorschlag, man werde den Journalisten mehr Zugänge zu den Fahrern schaffen, damit sie über das Racing, über Strategien und Überholmanöver schreiben können, ist (vielleicht) gut gemeint, in Wahrheit aber völliger Unfug. Es sind die Teams selbst, die den Fahrern Maulkörbe umschnallen, damit nur ja kein Sponsor verärgert wird (Mercedes hat Nico Rosberg zum Beispiel sogar das Wort “Katastrophe” verboten), und es ist undenkbar, dass offen etwa über die Rennstrategien gesprochen wird. Also reden wir lieber gleich über Geld und moralische Verantwortung.
Das sind große Themen. Den Ansatz, dass die Teams Empfehlungen “von oben” folgen, wenn sie Ecclestone (und dem Ruf des Geldes) nach China, Bahrain oder Russland folgen, kann ich sogar sehr gut nachvollziehen. Dass man dazu aber keine Meinung mehr hat und noch dazu Krawall schlägt, wenn andere ihre kritische Meinung kundtun, ist einer Weltsportart nicht würdig. Pressefreiheit ist nämlich auch ein großes Thema.
Und weil ich mich im Gegensatz zu den Teamchefs nicht um eine klare Antwort drucksen möchte: Meiner Meinung nach kann nur Christian Horner letzte Nacht am schlechtesten geschlafen haben. Ja, sein Team hat den Grand Prix gewonnen (und dazu gratuliere ich herzlich), aber am Freitag hat er womöglich selbst ein neues Fass aufgemacht. Denn bei der nächsten Teamchef-Pressekonferenz wird man ihn eventuell nicht mehr nur nach Russland und Aserbaidschan fragen, sondern auch nach seiner Auffassung von Pressefreiheit…
Ihr
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