Aufstieg des Wahhabismus Teil 2

Foto: 1down / Khalid Albaih / flickr / CC BY 2.0

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Jahrzehntelang verschlossen die westlichen Regierungen, Politiker und Medien ihre Augen vor der Realität. Niemand wollte wahrhaben, wie Saudi Arabien mit dem Hauptexportgut, der doktrinären Staatsideologie „Wahhabismus“, ganze Gesellschaften in muslimischen Ländern umkrempelt.

Am meisten betroffen sind die Länder Zentralasiens, die vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion für die wahhabitischen Proselyten nicht erreichbar waren und einem gemässigten Islam angehörten, der in vielen Fällen dem mystischen Sufismus folgte.

Doch mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Riesenreiches und der Entstehung neuer Nationalstaaten, waren die Saudis die ersten die im Kaukasus und den Ländern Zentralasiens auftauchten. Im Gepäck hatten sie Korane und Millionen von US-Dollars, um neue Moscheen und Madrassen aufzubauen die während der Sowjetherrschaft verboten waren. Gelehrt wurde aber nicht der Islam den die Menschen von ihren Vorfahren kannten, sondern den doktrinären Wahhabismus.

Obwohl diese Entwicklung natürlich kein Geheimnis war und nicht im Verborgenen stattfand, wir die Auswüchse dieser Entwicklung in Form von  Terroranschlägen und religiösem Wahn wie in den Jahren 2005/2006 im Irak und später in Syrien erlebt haben, postulieren unsere Politiker noch immer wie zuletzt der stellvertretende SPD-Parteichef Thorsten Schäfer-Gümbel dass Saudi Arabien „ein Partner gerade mit Blick auf die Stabilität in der Region“ ist.

Mit dieser Haltung steht der SPD-Politiker nicht alleine da. Als der deutsche Geheimdienst BND erst im Dezember vor Saudi Arabiens „destabilisierender Rolle“ in der Region warnte, reagierte die Bundesregierung empört (obwohl der BND direkt dem Kanzleramt unterstellt ist) und bescheinigte dem wahhabitischen Reich erneut „ein wichtiger Partner in einer von Krisen geschüttelten Weltregion“ zu sein.

Deshalb überraschte es mich um so mehr, als das zuletzt wegen enorm einseitiger Berichterstattung stark kritisierte Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) am 03.01.2016 Dr. Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik interviewte, der ebenfalls die Meinung vertrat, dass „ausgeblendet wurde in welchem Masse die saudische Aussenpolitik und Innenpolitik destabilisierend gewirkt hat„.

Wie recht doch der BND, Dr. Markus Kaim und die vielen Journalisten und Blogger (mich eingeschlossen) haben, zeigt auch die extrem rasante Entwicklung am Persischen Golf diese Woche. Als Saudi Arabien 47 Männer am Sonntag hingerichtet hat, einschliesslich des schiitischen politischen Dissidenten und Geistlichen Sheikh Nimr al-Nimr, explodierte der Unmut in der schiitischen Welt über diese Tat und die Wut und der Hass über Saudi Arabien selbst. Im Iran kam es zu Massenprotesten die in der Stürmung der saudischen Botschaft und Konsulat in Teheran und Mashhad gipfelten. Ohne Zweifel war es ein politisches Kalkül Saudi Arabiens nicht nur der eigenen schiitischen Bevölkerung ein Signal mit der Hinrichtung von Nimr al-Nirm zu senden, sondern auch die Schiiten im Iran zu einer Aktion zu provozieren um einen Vorwand für die eigenen Winkelzüge zu haben.

Diese folgten nur zwei Tage später. Saudi Arabien brach die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab und forderte die iranischen Botschaftsangehörigen in Riad auf, binnen 48 Stunden das Land zu verlassen. Nur Stunden nach der saudischen Entscheidung schlossen sich Bahrain und der Sudan mit den gleichen Aktionen an, was in unseren Medien als „Unterstützung für Saudi Arabien“ interpretiert wurde. Nichts könnte weiter entfernt sein. Bahrain und Sudan hängen am Rockzipfel des Al Saud-Clans und handelten mit grösster Wahrscheinlichkeit auf politischen Druck aus Riad.

Um das alles unter einen Hut zu bringen und die Rolle Saudi Arabiens besser verstehen zu können, ist es unumgänglich sich auch mit der Entstehungsgeschichte dieses Königshauses auseinanderzusetzen. Den ersten Teil dazu habe ich veröffentlicht, es folgt nun der zweite Teil:

Das Königreich Saudi Arabien entsteht

In den Jahren als die Al Saud an der Küste des Persischen Golfes versucht haben die kleinen Emirate zum Wahhabismus zu bekehren und natürlich auch nach Möglichkeit das ganze Territorium zu erobern, stiessen sie auf eine neue, aufgehende Macht in den warmen Gewässern des Golfes: die Briten.

Das Königreich Grossbritannien war darauf bestrebt, die Nachschublinien ihrer Kolonien von Indien bis Mesopotamien zu sichern und bildete dafür an beiden Seiten des Persischen Golfes eigene Stützpunkte. Dafür benötigte es aber die Einwilligung, und bei Bedarf militärische „Überzeugung“ der lokalen Emire und auf der iranischen Seite des Shah`s. Nahezu über das gesamte 19. Jahrhundert waren die Briten bemüht, mit Friedensverträgen die 1820 ihren Anfang nahmen, die Gewässer einigermassen sicher vor Überfällen auf die Frachtschiffe zu halten.

Die Emire hatten aber nicht mit den Briten zu kämpfen, sondern auch mit Gefahren wie den Al Saud`s. Unter der Führung von Faisal versuchten sie Bahrain und Qatar unter die Kontrolle zu bringen, wobei Bahrain das vorrangige Ziel der beiden Emirate war. In Qatar herrschte der Bruder des Emirs von Bahrain, Scheich Muhammad bin Khalifa al-Khalifa, den Faisal mit Unterstützung von loyalen Wahhabiten von der kleinen Insel verjagt hatte. Zusammen brachen sie auf um das Gleiche in Bahrain zu erreichen, doch dem dortigen Emir Muhammad kamen britische Kriegsschiffe zu Hilfe und setzten dem Angriffstrupp der Wahhabiten sehr zu. Wohl oder übel musste Faisal die Situation an der Küste akzeptieren wie sie war: uneinnehmbar für die Al Saud`s durch die Hilfe welche die Emire durch die britische Krone erhielten.

Gleichzeitig gedemütigt und voller Hass kehrten Faisal und seine Getreuen der Küste den Rücken zu und entschlossen sich, in das Kernland der eigentlichen Wahhabi-Bastion, dem Najd, zurück zu kehren. Aber auch dort haben sich die Verhältnisse während der Abwesenheit der wichtigsten Vertretern der Al Saud`s geändert. Diesen Umbruch bemerkte auch ein Engländer der Arabien bereiste, Charles M. Doughty, als er das Einflussgebiet der Al Sauds beschrieb:

„Die Stadt Riad mit ihren Vorstädten, und die nächsten Dörfer im Umkreis, ist alles was noch von der Wahhabi Dominanz übrig geblieben ist; welches eine kleine und schwache Gemeinschaft geworden ist. Ibn Saud`s Diener verlassen ihn und heuern bei Ibn Rashid an. Keine Beduinen gehorchen jetzt mehr dem Wahhabi. Sie sind alle glücklich das die Tage der Wahhabi Tyrannei vorbei sind.“

Der Al Rashid Stamm aus der Provinz Jabal Shammar galt unter den Beduinen Arabiens als der höchstangesehenste und einflussreichste Stamm. Seine Krieger waren bereits in vor-islamischer Zeit legendär, die berühmten und wunderschönen Araberpferde stammen aus dieser Region und sogar in der Poesie spielte der Stamm eine prominente Rolle.

Die Al Rashid`s hegten jedoch nie sonderlich grosses Interesse ihren Wirkungsgrad grossartig auszudehnen, bis Talal ibn Abdullah al Rashid 1847 zum Anführer des Stammes wurde. Talal vergrösserte seinen Herrschaftsanspruch im Najd in alle Himmelsrichtungen und stiess zwangsläufig mit den Al Sauds zusammen.  Unter seiner Führung blühten die Gemeinschaften der Schiiten und Juden in Hail, der „Hauptstadt“ der Al Raschid. Zwar mussten sie deutlich höhere Steuern bezahlen als die muslimischen Nachbarn, konnten aber dennoch ohne Gefahr ihrem Glauben nachgehen was unter der Herrschaft der Wahhabiten überhaupt nicht denkbar gewesen wäre.

So kam es wie es kommen musste. Der Al Rashid Clan überrante Riad 1891, die Hochburg der Al Saud`s, und tötete oder vertrieb die Familie. Doch die Wahhabi-Lehre überlebte das Exil der Al Saud`s, welche sich auf den Weg nach Kuwait machten. Dort wähnten sie sich unter der Obhut des Emirs Muhammad al-Sabah in Sicherheit vor den Al Rashid`s, da sich der Emir unter dem Schutz der britischen Krone befand.

Die Gründung des modernen Königreiches Saudi Arabien

In Kuwait entwickelte sich der elfjährige Junge Abdul Aziz bin Abdul Rahman Al Saud zum Liebling des Bruders des Emirs, Mubarak al-Sabah. Die Bewunderung für Mubarak wuchs noch mehr als dieser sich 1896 durch Morde an seinen Brüdern an die Spitze des Scheichtums brachte. Wie eng die Freundschaft tatsächlich war lässt sich daran erkennen, das der neue Emir den jungen Ibn Saud als Sohn bezeichnete und dieser ihn als Vater. Neun Jahre nach der Flucht aus Riad sollte der Moment der Wahrheit für beide Familien in Kuwait werden. Mit Unterstützung von osmanisch-türkischen Soldaten starteten Kämpfer der Al Rashids einen Angriff auf Kuwait um sich ein für alle Mal von den Rivalen zu entledigen und aus türkischer Sicht den religiösen Unruhestiftern ebenfalls endgültig das Rückgrat brechen. Sie hätten es niemals für möglich gehalten das die Weltmacht Grossbritannien wegen ein paar exilierten Araber in einem kleinen Scheichtum ihre Flotte bemühen würde um sie vor anderen Arabern zu beschützen. Doch die Engländer standen zu ihren Vertraglich vereinbarten Pflichten und eilten der Al-Sabah Familie zu Hilfe. Mit donnernden Kanonen bombten sie die Angreifer zurück in die Wüste und sicherten mit ihrem Eingreifen das Überleben zweier Dynastien die sie noch Jahre und Jahrzehnte später beschäftigen würden.

Durch diesen Angriff der Al Rashids entschied sich Ibn Saud die Initiative zu ergreifen und selbst für neue Tatsachen auf der Arabischen Halbinsel zu sorgen. Er bat den Emir von Kuwait, Sheikh Mubarak Al-Sabah, um Hilfe für seine Mission, Riad wieder zu Ehren der angestammten Familie zu erobern. Lange musste Ibn Saud nicht bitten: Mubarak entsprach seiner Bitte mit dreissig Kamelen und Kanonen.

Mit dieser schlagkräftigen Unterstützung und vierzig loyalen Wahhabiten zog Ibn Saud in Richtung Riad wo der von Al Rashid eingesetzte Gouverneur Ajlan regierte. Heimliche Hilfe erhielten sie ausgerechnet von Ajlans Frau die zum Stamm der Al Sauds gehörte. Sie liess die Truppe in ihr Haus rein wo sie warteten bis ihr Ehemann von seinem Morgengebet zurückkehrte. Als dieser die Eindringlinge in seinem Haus bemerkte rannte er davon und versuchte sich hinter die Stadtmauern von Riad zu retten. Doch es war zu spät. Ein Begleiter von Ibn Saud erwischte ihn am Bein so das Ajlan stürzte. Sofort war Ibn Saud zur Stelle, enthauptete Ajlan mit seinem Säbel und warf den Kopf in Richtung der Menschenmenge welche sich am Ort des Geschehens versammelte und schrie dabei: „Wer ist jetzt an meiner Seite – WER? Euer eigener Emir ist wieder zurück unter euch!

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde in den Gassen Riads dass der Gouverneur vom angestammten Emir getötet wurde und die Stadt wieder für sich beansprucht. Zwar war es unter der Führung der Al Rashid etwas freier zugegangen, doch es gab auch während der Herrschaft der Al Saud und deren Wahhabiten keine unüberbrückbaren Differenzen die nun einer erneuten Herrschaft unter Ibn Saud im Wege gestanden hätten. Die Bevölkerung von Riad hiess ihn Willkommen.

Der nächste Schritt galt dem Erzrivalen um die Vorherrschaft im Najd, dem Al Rashid Clan. Im April 1906 lockte Ibn Saud seinen Widersacher in einer Oase bei Buraidah in eine Falle und tötete ihn. Ibn Saud entschloss sich nach diesem Sieg gegen seinen Hauptrivalen nicht einfach nach Riad zurückzukehren und der Dinge harren, sondern ging mit grossem Eifer und auch Erfolg daran das Herrschaftsgebiet des Hauses Al Saud zu erweitern. Umgeben von einer Aura der Stärke und Macht, und im Schlepptau eine Horde von Kriegern, unterdrückte Ibn Saud in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Provinz nach der anderen. Diese Entwicklung wurde mit grösster Sorge im Hijaz, im Sultanat Oman, im Yemen und an der Persischen Golfküste beobachtet. Auch Sheikh Mubarak Al-Sabah, der Emir von Kuwait und einstiger Beschützer von Ibn Saud, wurde immer unwohler bei dem Gedanke, dass sein ehemaliger Schützling die Jahrhunderte alte Balance auf der Arabischen Halbinsel ins Wanken bringen würde.

Der neue starke Mann im Najd ritt 1910 nach Kuwait, um sich dort mit dem britischen Politischen Agenten, Capt. William Shakespeare, zu treffen und einen Disput mit dem kuwaitischen Emir Mubarak zu schlichten. Capt. Shakespeare war der allererste Mensch aus dem Westen, den Ibn Saud jemals gesehen hat. Und was noch viel bemerkenswerter war, sie freundeten sich sofort miteinander an. Wahrscheinlich rührt von dieser Bekanntschaft mit dem britischen Offizier die relativ freundliche Gesinnung Ibn Sauds gegenüber den Christen, was den wahhabitischen ulama ein grosser Dorn im Auge war. Für Ibn Saud waren die Muslime, die nicht den Wahhabismus annehmen wollten, ein grösseres Übel als die Christen, weil die letzteren wenigstens ihrer Religion und der Bibel treu blieben. Dazu äusserte sich Ibn Saud gegenüber Shakespeare: „Wir Wahhabiten hassen die Türken nur ein bisschen weniger als die Perser, weil sie ungläubige Praktiken in den wahren und puren Glauben gebracht haben welcher uns aus dem Koran mitgeteilt wurde.

Es war eben dieser britische Agent der Ibn Saud bei seinem Besuch im Najd ermunterte, dass „die Zeit reif ist das sich der Najd von der osmanischen Oberhoheit entledigt und deren Truppen aus al-Hasa vertreibt“. Ibn Saud entschied sich diese Situation für sich auszunutzen, zumal er bereits eine Verbindung zu den Händlern hergestellt und sich der Unterstützung der Bevölkerung von al-Hasa sicher war, und zog mit dreihundert seiner besten Krieger am 04. Mai 1913 nach Hofuf, der grössten Stadt der Provinz mit ihrem imposanten Fort. Und wieder überraschte er im Schutze der Dunkelheit die türkischen Soldaten die sich ohne grosse Gegenwehr den Angreifern übergaben. Zu diesem Zeitpunkt hätte niemand wissen können das mit diesem Erfolg in al-Hasa und der Eingliederung des Territoriums unter das Herrschaftsgebiet Ibn Sauds, dass es ausgerechnet diese Provinz sein würde die den finanziellen Grundstock für das künftige Saudi Arabien bilden würde.

Al Hasa Al Hasa Provinz in Grün: Quelle Wikipedia CC BY

Najd vs. Hijaz oder Ibn Saud vs. Sharif Hussain von Mekka

Durch die Freundschaft Ibn Saud`s zu Capt. William Shakespeare entwickelte der Wüstenkönig eine gewisse Bewunderung für die Engländer. Natürlich erkannte er auch den Vorteil, die damalige Supermacht besser zum Freund als zum Feind zu haben. Am 26. Dezember 1915 wurde das erste Abkommen zwischen dem britischen Prokonsul aus dem iranischen Busher und Ibn Saud unterzeichnet wurde. Ibn Saud wurde als Sultan des Najd, al-Hasa, Jubail und al-Qatif anerkannt und im Gegenzug würde er die Interessen der englischen Krone wahren und die Scheichtümer an der Küste nicht angreifen. Als gemeinsames Interesse wurde die Vertreibung der Türken von der Arabischen Halbinsel vereinbart.

Im Hijaz dagegen blickte der seit 1908 eingesetzte Sharif Hussain mit Sorge auf diese Entwicklung zwischen den Wahhabiten und den Briten. Denn in Mekka planten er und seine Söhne ebenfalls einen Aufstand gegen die im fernen Konstantinopel an die Macht gekommenen „Jungen Türken“ und deren Politik. Auch ihnen schwebte ein territoriales Gebilde, sowas wie ein „Vereintes Arabien“ vor, in welchem sämtliche Stämme unter Führung eines Königs unabhängig von den Türken leben würden. Zustimmung erhielt Sharif Hussein von den Stämmen des Hijaz und auch teilweise aus dem Najd, aber Ibn Saud und Imam Yahya aus dem Jemen blockierten dieses Vorhaben vehement.

Der britische Politische Agent für den Persischen Golf, Sir Percy Cox, hielt aber zu Ibn Saud und erachtete ihn als äusserst nützliches Instrument für die englische Krone, in den Wirren des ersten Weltkrieges die eigenen Interessen im Nahen Osten zu wahren. Viel nützlicher jedenfalls als den Sharifen von Mekka welcher aber vom Kriegskabinett in London favorisiert wurde. Fakt ist aber dass die Briten und die Araber, unabhängig davon unter welcher Führung, in den Türken einen gemeinsamen Feind sahen, obwohl die Gründe davor nicht unterschiedlicher hätten sein können. Für die Araber stellten die Türken eine fremde Macht dar die sie seit Jahrhunderten unterdrückten und von deren Fesseln sie sich entledigen wollten. Für Grossbritannien wurden die Türken erst dann zum Feind als sie sich nach längerem Zaudern auf die Seite Deutschlands schlugen und der Sultan, der auch gleichzeitig der Kalif war, also Stellvertreter Gottes auf Erden, einen Jihad gegen die Ungläubigen ausrief. Für Grossbritannien bedeutete das ein enormes Risiko da das Königreich über eine unglaublich hohe Zahl von Muslimen in ihren Kolonien herrschte. Wenn die Menschen in Ägypten, Sudan und dem Indischen Subkontinent dem Aufruf aus Konstantinopel folgen würden, hätte das katastrophale Auswirkungen auf Grossbritannien gehabt. Dieses Risiko galt es also unter allen Umständen einzudämmen.

Der neue britische Hochkomissar für den Nahen Osten in Kairo, Sir Arthur Henry McMahon, bevorzugte ebenfalls eine Allianz zwischen London und Sharif Hussein und liess ihm in einem Brief mitteilen, dass er einem Arabischen Königreich mit Hussein als König befürworten würde. Wie sehr aber Britisch Indien diesen Plan eines Arabischen Königreiches verabscheute, zeigte sich in einem Protestbrief vom Vizekönig in Indien Lord Hardinge an das Aussenministerium in London:

„Wir waren sehr verstört ob den Zusicherungen die McMahon dem Sharif von Mekka gegeben hat. Ich vertraue darauf dass das Aussenministerium in der Lage sein wird McMahon aus dem Loch heraus zu holen in welches er gefallen ist. Ich hoffe inständig dass dieser vorgeschlagene unabhängige Staat in alle Teile zerfallen wird sollte er jemals gegründet werden. Niemand hätte wahrscheinlich ein Schema entwickeln können das noch nachteiliger für britische Interessen im Nahen Osten gewesen wäre als dieses.“

In der Folge wurden beide Anführer mit Waffen und Geldern ausgestattet um sie bei Laune zu halten und ihren Beitrag im Krieg gegen das Osmanische Reich zu leisten. Als sich der Erste Weltkrieg langsam dem Ende neigte, kam es immer öfters zu offenen Schlachten zwischen Ibn Saud`s Wahhabiten und den Soldaten des Sharifen.

General Allenby, der gefeierte britische Offizier der Jerusalem befreit hat, schrieb am 28.05.1920 an Lord Curzon dass die Zahlungen an beide Protagonisten auf der Arabischen Halbinsel beibehalten werden sollten, da sonst das Königreich Hijaz aufgrund fehlender wirtschaftlichen Zweige in Anarchie verfallen würde. Ausserdem deutete er an, dass sich die Regierung der englischen Krone massive Kritik gefallen lassen müsste weil sie ihren Versprechen nicht nachkommt und diejenigen hintergeht, die für den Sieg der Alliierten mit verantwortlich waren. Die Schatzkammer Grossbritanniens vertrat in dieser Hinsicht eine eher nebulöse Linie. Sie verwies darauf das es problematisch wäre, solche Summen an eine Partei oder Staat zu zahlen ohne dass die genaue völkerrechtliche Situation geklärt ist.

Dass aber die Brüder Faisal und Abdullah den Löwenanteil an der Verwaltung und Umsetzung der britischen Politik in den besetzten Gebieten Syriens (heutiges Syrien und Jordanien) trugen um die Kosten für London so gering wie möglich zu halten, muss diese Haltung der britischen Schatzkammer für König Hussain wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

Um nicht den Zorn der gesamten islamischen Welt durch diesen Verrat heraufzubeschwören, musste sich London etwas anderes einfallen lassen. Immerhin gab es ja Versprechen seitens der Briten, obwohl es gravierende Meinungsverschiedenheiten und Interessen zwischen London und Delhi darüber gab, ein arabisches Königreich zu gründen. Mit Abdullah als Emir im britisch kontrollierten Teil Syriens und Faisal als faktische Speerspitze der Arabischen Revolte im Kampf gegen die Türken, gab es gleich zwei Möglichkeiten König Hussain im Hijaz zu beruhigen.

Abdullah wurde davon überzeugt das britische Mandatsgebiet östlich des Jordans zu übernehmen welches für die Briten zu kostspielig wurde und Frankreich aber kein Interesse an diesem Gebiet hatte. Am 2. März 1921 traf Abdullah in Amman ein. Es kann nicht unbedingt behauptet werden dass er mit Fanfaren empfangen wurde, auch er würde die dort herrschende Stammesgebiete aufwirbeln und das Machtvakuum nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches füllen müssen. Aber er hatte die Rückendeckung Grossbritanniens und London war darauf aus, das vorsichtig gepflegte Image einer fairen Imperialmacht zu bewahren.

Faisal dagegen wurde von den Engländern als künftiger König in Mesopotamien ins Spiel gebracht, gegen starke Einwände aus Paris und Britisch-Indien. Man machte sich aus Gedanken darüber wie wohl Ibn Saud reagieren würde wenn er erfährt dass zwei seiner Erzfeinde ein Königreich erhalten würden und ihn damit von drei Seiten eingekreist hätten. Im Westen der Hijaz mit König Hussein, im Norden (Nordwest und Nordost) Abdullah und Faisal. In Riad erkannte Ibn Saud dass er den Briten nicht weiter trauen konnte. Zu viel Zeit der Warterei und Beschwichtigungen der verschiedenen Repräsentanten die mit Capt. William Shakespeare seinen Anfang nahmen ist vergangen und nichts Entscheidendes, nichts Entscheidendes für Ibn Saud, ist bis jetzt geschehen. Und anstatt das Ibn Saud das Feld beherrscht ist es nun Hussein und seine Söhne. Die Zeit war gekommen um das Heft an sich zu reissen.

Ibn Saud rief zum Angriff im Norden gegen Ibn Rashid in Hail auf und versammelte eine Wahhabiten Armee von Zehntausend zu allem entschlossene Krieger. Im August 1921 führte er sie in das Stammesgebiet der Jabal Shammar und überrannte die Verteidigung von Hail. Ibn Rashid wurde gefangen genommen aber nicht getötet. Ibn Saud wollte eine taktische Verbindung mit seinem Erzfeind eingehen um die Stammesmitglieder der beiden Todfeinde mundtot zu machen, indem er die Tochter Ibn Rashid`s heiratete (Abdullah bin Abdul Aziz, der Sohn dieser Verbindung, sollte 1982 Kronprinz von Saudi Arabien werden).

Auf allen Seiten zog Ibn Saud seine Kämpfer in den Krieg zusammen, um „sein Erbe“ als Emir eines grossen Reiches anzutreten. Es sollte nirgendwo sonst mehr mit so wenig Blutvergiessen geschehen wie in Hail. Über 400.000 Menschen fanden dabei den Tod da die Wahhabiten nichts von gefangenen mushrikun hielten, beziehungsweise sie nicht für lebenswert hielten. Weit über eine Million Menschen flohen vor den berittenen Schergen in die Nachbarländer wie Irak, Kuwait oder auch Transjordanien.

Als in Konstantinopel 1924 das Kalifat abgeschafft wurde, überschlugen sich in Arabien die Ereignisse. König Hussein proklamierte sich selbst zum neuen Kalifen. Für Ibn Saud bedeudete diese „Selbstkrönung“ die allerletzte Provokation des Königs und er setzte im August 1924 zum Sturm auf den Hijaz an. Wieder sollte es die Sommerresidenz Taif als Erstes treffen. Wieder kam es zu einem Massaker an der Bevölkerung.

Der neue Sharif, Awn bin Hashim, der sich zu dieser Zeit ebenfalls in Taif aufhielt, berichtete von diesem Sturm auf seine Stadt:

„Die Strasse vor mir war voll gepflastert mit Leichen, getrocknetes Blut war überall zu sehen. Es gab fast keinen Baum am welchen nicht ein bis zwei tote Körper an der Baumwurzel zu sehen waren.“

Bei dem Angriff auf Taif zeigte Ibn Saud grosse strategische Weitsicht, denn das Massaker dort führte nicht er an, sondern dreitausend seiner Ikhwan Krieger. Hätte es eine starke Gegenreaktion der Briten gegeben, hätte er seine Hände in Unschuld waschen und auf die Ikhwan verweisen können. Angesichts der Demonstration von blutiger Entschlossenheit Ibn Saud`s und gleichzeitiger Ignoranz der Briten zu diesem Vorfall, erkannte Hussein dass er nicht mehr auf Hilfe von irgendeiner Seite rechnen konnte. Grossbritannien hatte ihren grössten und wichtigsten Unterstützer im ersten Weltkrieg im Kampf gegen die Türken geopfert.

Am 03. Oktober 1924 trat Hussein als König zurück und übergab die Regierungsgeschäfte seinem Sohn Abdullah, dem späteren König Transjordaniens. Aber auch Abdullah konnte nichts gegen die Attacken der Ikhwan und Ibn Saud ausrichten, geschweige denn sie stoppen oder gar zum Rückzug zwingen. Die Ikhwan setzten ihre Spur der Verwüstung unterdessen fort und verwüsteten einen Schrein und eine Moschee nacheinander um jegliche Spur von islamischer Tradition zu vernichten die nicht ihrem eigenen fanatischen Weltbild entsprach. Nur zwei Monate nach dem Rücktritt von Hussein, stand Ibn Saud vor den Toren von Mekka und läutete den Untergang des einst so hoffnungsvollen Königreiches von Hussein ein. Im Jahr darauf war es dann soweit: Hussein wurde von den Briten nach Zypern evakuiert und Ibn Saud blieb der unangefochtene Herrscher Zentralarabiens.

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